Nichts ändert sich, bis man sich selbst ändert und plötzlich ändert sich alles.

Welche wichtigen frühkindlichen Reflexe gibt es?

Es gibt unterschiedliche Reflexe, die jeweils in einem entsprechenden Zeitraum auftreten.

Zeitliche Entwicklung:

5. SSW: Furchtlähmungsreflex (FLR)
9. SSW: Mororeflex
11. SSW: Palmar- und Plantarreflex (Handgreif- und Fußgreifreflex)
12. SSW und Geburt: Tonischer Labyrinthreflex (TLR) vorwärts und rückwärts
18. SSW: Spinaler Galantreflex
20. SSW: Asymmetrisch Tonischer Nackenreflex (ATNR) bzw. Fechterstellung
26. SSW: Such- und Saugreflexe (Kardinalpunktreflex)
1. LW: Babkin-Reaktion
1. LW: Babkinski-Reaktion
4. LW: Landau-Reaktion
2. LM: Labyrinthstell-Reaktion
2. LM: Augenstell-Reaktion
3. LM: Gleichgewichts-Reaktion
4. LM: Amphibien-Reaktion
6. LM: Segmentäre Roll-Reaktion
6. LM: Symmetrisch Tonischer Nackenreflex (STRN) Streckung + Beugung

Einige wichtige Reflexe habe ich näher beschrieben mit Zeitpunkt der Aktivierung und der Hemmung, der Aufgabe, des auslösenden Reizes, der Reaktion und den typischen Anzeichen für deren Persistieren.

Furchtlähmungsreflex (FLR)

Entstehung:
5.-7. SSW
Hemmung:
12. SSW mit Überführung in den Mororeflex

Aufgabe:
Senkung der Körperfunktionen zum Schutz des Fötus, damit es sich nicht in der Nabelschnur verwickelt.

Auslöser:
Bei Stress der Mutter kann es zur Komprimierung des Fruchtwassers kommen und es entsteht Druck auf den Fötus.

Reaktion:
Erstarren: Wenn die Mutter unter Anspannung steht, kann sich das Fruchtwasser komprimieren und es entsteht Druck auf den Fötus. Damit es keine Probleme mit der Nabelschnur bekommt, wird es in den „Freeze-Modus“ versetzt, d.h. es kugelt sich ein und erstarrt. Wenn diese Phase länger anhält, kann die Entwicklung durch die fehlenden Bewegungen behindert sein.

Anzeichen für ein Persistieren:

  • Unfähigkeit in Schreck- und Stresssituationen zu reagieren (Kinder wirken wie erstarrt und erblassen meistens)
  • Überempfindlichkeit gegenüber Berührung, Geräuschen, Licht, Menschenmassen, Kritik
  • autismusähnliches Verhalten: Schüchternheit und Vermeidung von Blickkontakt, Abschalten und Tagträumen, emotionale Starre und Schwierigkeiten beim Zeigen/Äußern von Gefühlen
  • Ängste (v.a. Trennungsangst)
  • Konfliktvermeidung
  • geringe Stresstoleranz
  • geringes Selbstwertgefühl und Unsicherheit
  • Hang zum Perfektionismus und Versagensängste
  • Depressionen
  • schlaffer Muskeltonus

Mororeflex

Entstehung:
9.-12. SSW
Hemmung:
2.–4. LM Entwicklung zur reifen Schreckreaktion

Aufgabe:

Vor allem für den 1. Schrei bzw. Atemzug nach der Geburt, um die Lungen mit Luft zu füllen, sowie durch die Ausschüttung von Stresshormonen steigt die Atemfrequenz, der Blutdruck und der Herzschlag.

Auslöser:
plötzliche unerwartete Reize jeglicher Art: vestibuär (Lageveränderung), auditiv (lautes Geräusch), visuell (Lichteinfall), taktil (Berührung)

Reaktion:
Es kommt zu einer Abfolge schneller Bewegungen: unmittelbare Erregung, tief Luft holen, Abduktion der Arme und Beine, Fäuste öffnen sich, kurzes Erstarren, anschließend Umklammerung und Ausatmen (evtl. Schrei). Es werden Stresshormone (Cortisol und Adrenalin) ausgeschüttet und das Gesicht rötet sich.

Der Mororeflex ist mit allen Sinnen verbunden, so dass dessen Persistieren große Auswirkungen körperlicher, sozialer, emotionaler und sozialer Art haben kann.

Anzeichen für ein Persistieren:

  • Gleichgewichts- und Koordinationsprobleme (Ballspielen)
  • emotionale Labilität und Schwierigkeiten mit Kritik
  • Ängstlichkeit, Schreckhaftigkeit und niedriges Selbstwertgefühl
  • Ehrgeiz und Perfektionismus
  • Hypersensitivität (visuell, auditiv, taktil, emotional)
  • Rituale/Routine notwendig und Abneigung gegenüber Veränderungen
  • Neigung zu monotonen Verhaltensmustern (evtl. scheinbare Zwänge)
  • viele Infekte (durch erhöhte Produktion von Stresshormonen und damit geschwächtes Immunsystem) tendenziell Schreibabys (Positiv gesehen: Sie bauten über das Schreien Stress ab.)

Palmar- und Plantarreflex (Handgreif- und Fußgreifreflex)

Entstehung:
11. SSW
Hemmung:
Ca. 2.-3. LM (Palmar) und 7.-9. LM (Plantar), Entwicklung zum willkürlichen Loslassen und Pinzettengriff

Aufgabe:
Beide Reflexe stammen evolutionsbedingt aus der Zeit, als sich Babys automatisch am Fell der Affenmutter festhalten mussten.

Auslöser:
leichte Berührung oder Druck auf die Handinnenfläche oder den mittleren Fußballen

Reaktion:
führt zum Schließen der Finger bzw. zum Zusammenrollen der Zehen

Anzeichen für ein Persistieren:

  • manuelle Ungeschicklichkeit
  • Fehlen des Pinzettengriffs, wodurch die Stifthaltung beim Schreiben behindert wird
  • Sprach- und Artikulationsschwierigkeiten (Babkin-Reaktion: Beziehung zwischen Handbewegungen und Mundbewegungen)
  • Handfläche bleibt überempfindlich
  • Schwierigkeiten beim Abrollen des Fußes

Tonischer Labyrinthreflex (TLR) vorwärts und rückwärts

Entstehung:
12. SSW (vorwärts) und bei der Geburt (rückwärts)
Hemmung:
3.-4. LM (vorwärts) und bis zum 4. Lebensjahr (rückwärts), Integration in die Kopfstellreflexe, in den Symmetrisch Tonischen Nackenreflex (STNR) und in den Landaureflex

Aufgabe:
Der TLR vorwärts entspricht der fötalen Beugehaltung. Der TLR rückwärts ermöglicht dem Baby, auf die Schwerkraft zu reagieren, und hilft ihm, sich aus der gebeugten Fötus- und Neugeborenenhaltung heraus zu strecken. Dabei werden Gleichgewicht, Muskeltonus und Propriozeption (Tiefensensibilität) trainiert.

Auslöser:
Bewegung des Kopfes nach vorn (vorwärts) und nach hinten (rückwärts)

Reaktion:
Die Bewegung des Kopfes nach vorne führt zu einer Beugung des Körpers, die Bewegung des Kopfes nach hinten zu einer Streckung des Körpers.

Anzeichen für ein Persistieren:

  • Schwacher Muskeltonus (Hypotonie), dadurch resultierend evtl. Hang zu Muskelverspannungen und auch keine Freude an sportlichen Aktivitäten
  • gekrümmte Haltung
  • Neigung zum Zehenspitzengang
  • Schwierigkeiten beim Gleichgewicht und bei der Balance + Koordination
  • Schwindel und Neigung zu Reiseübelkeit (auch beim Autofahren)
  • Probleme bei der Augenmotorik (visuelle und räumliche Wahrnehmung)
  • Schwächen im Erkennen von Einhalten von logischen Abfolgen, z.B.
    • Fortsetzung von Mustern
    • Ergänzung von Zahlenreihen
    • Bildung von grammatikalisch richtigen Sätzen
    • Lesen der Uhrzeit
    • Abschreiben von der Tafel (da beim Abheben und Absenken des Kopfes das Gleichgewicht gefordert ist)
  • Schwierigkeiten bei der strukturierten Planung und Umsetzung von Aufgaben und Prozessen
  • Probleme bei der Einschätzung von Raum, Entfernung, Abstand, Tiefe und Geschwindigkeit
  • speziell TLR vorwärts: Höhenangst (da bei einer Beugung des Kopfes nach vorne der ganze Körper gefühlt nach vorne gezogen wird).
  • speziell TLR rückwärts: steife, ruckartige Bewegungen (da die Streckmuskeln mehr als die Beugemuskeln agieren)

Asymmetrisch Tonischer Nackenreflex (ATNR) bzw. Fechterstellung

Entstehung:
18. SSW
Hemmung:
7.-8. LM Integration in Amphibienreflex (Kriechmuster) und in segmentären Rollreflex (Überkreuzen der Mittellinie)

Aufgabe:
Der ATNR ermöglicht dem Baby die aktive Teilnahme am Geburtsprozess („Herausschrauben“). Außerdem sorgt er für die erste Koordination zwischen Augen und Hand dar und trainiert das Fokussieren von Gegenständen.

Auslöser:
Kopfdrehung des Kindes

Reaktion:
In der Rückenlage führt die Kopfbewegung des Babys zu einer Seite zu einem gleichzeitigen Ausstrecken des Arms und Beins zu dieser Seite, während der Arm und das Bein der anderen Körperseite gebeugt wird. In Bauchlage sorgt der ATNR für freie Atemwege.

Anzeichen für ein Persistieren:

  • Gleichgewichtsprobleme und mangelhafte Kopfstellreaktionen
  • Probleme bei Überkreuzbewegungen der Körpermittellinie (Krabbeln wurde eventuell ausgelassen)
  • Schwierigkeit mit fließenden Augenfolgebewegungen (wichtig fürs Lesen und Abschreiben)
  • Auge-Hand-Koordination (Feinmotorik/Schrift)
  • beim Lesen werden nicht nur die Augen, sondern der ganze Kopf bewegt
  • Kinder mit Lese-/Rechtschreibschwäche zeigen stärkere ATNR-Restreaktionen (Verwechslung von formähnlichen Buchstabe: b-d)
  • unvollständige Ausbildung einer Seitigkeit und Ohrpräferenz
  • eingeschränkte Raum-/Lageorientierung (daraus resultierend auch Schwierigkeiten bei Rechen- und Geometrieaufgaben)

Spinaler Galantreflex

Entstehung:
20. SSW
Hemmung:

3.-9. LM Weiterentwicklung zum Amphibienreflex

Aufgabe:
Unterstützung beim Geburtsprozess durch leichte Rotationsbewegungen der Hüfte zum Durchkommen durch den Geburtskanal

Auslöser:
Stimulation im Lendenbereich

Reaktion:
Leichte Hüftbewegung und Rotation in Richtung der Stimulation

Anzeichen für ein Persistieren:

  • schlechte Kontrolle über die Blase (damit Einnässen über das 5. LJ hinaus)
  • Schwierigkeiten beim längeren Stillsitzen und Zappeligkeit (Hyperaktivität)
  • erhöhte Sensibilität um die Taille herum (Vermeidung enger Kleidung)
  • mangelnde Konzentration

Such- und Saugreflexe (Kardinalpunktreflex)

Entstehung:
24.–28. SSW
Hemmung:
3.-4. LM Fähigkeit, seine Nahrung selbst zu „orten“, und Entwicklung reifer Saug-/Kau- und Schluckbewegungen

Aufgabe:
Nahrungsaufnahme

Auslöser:
Reizung im umliegenden Bereich des Mundes (z.B. Wange, der Lippen oder des Mundwinkel)

Reaktion:
Bei Berührung in der Mundumgebung dreht sich der Kopf in diese Richtung. Der Mund wird geöffnet und die Zunge zum Saugen herausgestreckt.

Anzeichen für ein Persistieren:

  • Überempfindlichkeit um die Lippen und den Mund herum
  • „Sabbern“ auch im Kleinkindalter
  • Daumenlutschen
  • falsche Lage der Zunge im Mundraum (Schluck- und Kaubeschwerden)
  • Zahn- und Gebissfehlstellungen (nicht voll entwickelte Schluckbewegungen können zur ausgeprägten Wölbung des Gaumens führen)
  • Sprach- und Artikulationsprobleme
  • manuelle Ungeschicklichkeit und Probleme mit der Feinmotorik (Verbindung Mund-Hand)
  • beim Schneiden als auch beim Schreiben führt die Zunge ähnliche Bewegungen aus

Symmetrisch Tonischer Nackenreflex (STNR) Beugung und Streckung

Entstehung:
6.-9. LM (Beugung und Streckung)
Hemmung:
9.-11. LM (Beugung und Streckung)

Aufgabe:
Der STNR hilft dem Baby, die Schwerkraft zu überwinden, indem es den Körper aufrichtet. Dadurch wird der TLR gehemmt.

Auslöser:
Veränderung in der Nackenhaltung nach vorn (Beugung des Kopfes) und nach hinten (Heben des Kopfes)

Reaktion:
Die Haltung des Kopfes führt zu einer Bewegung, bei der die obere und untere Körperhälfte gegensätzliche Bewegungen ausführen. D.h. beim Beugen des Kopfes kommt es zu einer Beugung der Arme und Streckung der Beine, während es beim Heben des Kopfes zu einer Streckung der Arme und Beugung der Beine kommt.

Krabbeln ist ein elementares Bewegungsmuster, da die Augen die Mittelachse kreuzen (Voraussetzung fürs Lesen) und die beiden Hirnhälften werden zum synchronen Arbeiten veranlasst werden. Nach Sally Goddard Blythe: „Durch das Krabbeln werden das vestibuläre (Gleichgewicht), das propriozeptive (Eigenwahrnehmung) und das visuelle System miteinander verbunden und zum ersten Mal in Zusammenarbeit miteinander gebracht.“ Er trainiert somit das Gleichgewicht, die Nah- und Weitsicht (v.a. das Fixieren), die Wahrnehmung im Raum (Propriozeption) und das beidseitige Hören. 75% der Kinder mit Lernschwierigkeiten oder AD(H)S-Symptomatik haben einen noch aktiven STNR.

Anzeichen für ein Persistieren:

  • Kinder sind in der Vierfüßlerposition kaum vorwärts und rückwärts geschaukelt
  • Kinder sind kaum gekrabbelt (eher folgende Fortbewegung: Bärengang, Rutschen auf dem Po, Schieben auf dem Rücken, seitliches Rollen oder direkter Übergang ins Laufen) oder haben alternativ beim Krabbeln die Hände nach außen gedreht (um Einknicken an den Ellenbogen zu verhindern) und Füße angehoben
  • Kind sitzt zwischen den Fersen auf dem Boden (W-Sitz) und auf dem Stuhl schlingen sich die Beine um die Stuhlbeine
  • schlechte Auge-Hand-Koordination (zu beobachten beim Schreiben und Ballspielen)
  • beim Schreiben neigt sich der Kopf nach vorne
  • Probleme bei der Konzentration in der Schule und den Hausaufgaben, da das Sitzen Kapazitäten im Gehirn bindet.
  • Tollpatschigkeit und Kleckern beim Essen
  • Schwierigkeiten beim Schwimmenlernen (Beine sacken nach unten weg), aber nicht beim Tauchen
  • langsames Abschreiben von der Tafel, weil das Kind nicht schnell von der Fern- auf die Nahsicht umstellen kann