Absolut alles ist möglich. Selbst das Unmögliche.   Mary Poppins

Mir liegt die neurophysiologische Entwicklungsförderung sehr am Herzen. Leider ist sie in Deutschland noch nicht sehr bekannt. Dabei gibt es einige internationale Studien, die auf Zusammenhänge zwischen persistierenden frühkindlichen Reflexen und Lern- bzw. Verhaltensauffälligkeiten hinweisen.

Auf den ersten Blick erscheint es kaum möglich, dass ein simples Bewegungsprogramm die Symptome von unterschiedlichen Themen wie z.B. Lernschwierigkeiten (Lesen, Schreiben, Rechnen), Verhaltensauffälligkeiten (ADS, ADHS oder sogar auch Autismus) sowie Wahrnehmungs- und Sensorik-Störungen zum Teil erheblich verbessern können.

Aber es ist wissenschaftlich fundiert und neurologisch erklärbar. Die frühkindlichen Reflexe legen die Grundlage für die notwendige Gehirnreifung des Kindes. Das Gehirn besteht aus Hirnstamm (Grundfunktionen), Kleinhirn (Gleichgewicht und Koordination), Zwischenhirn (Gefühle und Instinkt) und Neocortex (bewusste Handlungssteuerung). Bei der Geburt sind alle Bereiche des Gehirns vorhanden, interagieren aber noch nicht miteinander. Anfangs wird das Baby nur vom Hirnstamm durch die frühkindlichen Reflexe gesteuert. Das Wachstum der Nervenzellen (Neuronen) wird durch Stimulieren der Sinne wie Berührung, Schaukeln und eigene rhythmische Bewegungen des Babys angeregt. Neuronale Verknüpfungen (Synapsen) bilden sich durch das Wiederholen von Bewegungsmustern. Dadurch werden die Hirnareale miteinander vernetzt und die „höheren“ Hirnzentren übernehmen die Kontrolle (bewusste Bewegungen).

In den letzten Jahren ist auch immer mehr „Neurotraining“, „Neuroathletik“ oder auch „Neurozentriertes Training“ in aller Munde. Es kommt aus dem Leistungssport und spricht die neuronalen Funktionen des Gehirns an. Durch spezielle Übungen werden vernachlässigte oder eingeschränkte Funktionen des Nervensystems aktiviert und gezielt trainiert, um mehr Kraft, Ausdauer und Beweglichkeit zu erzielen. So wurde die deutsche Fußballnationalmannschaft zur WM 2014 mit einem neuroathletischen Ansatz trainiert und Deutschland wurde zum 4. Mal Weltmeister. In den Grundzügen ist die Neuroathletik vergleichbar mit der neurophysiologischen Entwicklungsförderung.

Hier können Sie mehr darüber erfahren:

https://www.zeitschrift-sportmedizin.de/neuroathletiktraining-nat-was-schielen-und-summen-mit-bewegungsqualitaet-zu-tun-haben/

https://www.dw.com/de/neuroathletik-ist-das-gehirn-der-schluessel-zum-sportlichen-erfolg/a-64305071

https://www.ispo.com/health/neuroathletik-gamechanger-oder-unsinn/

Übersicht unterschiedlicher Studien zu persistierenden frühkindlichen Reflexen, zusammengetragen aus Literatur und Internet (v.a. von www.researchgate.net):

1964 – 1969 V. Skluzacek (Minnesota, USA)
Die fünfjährige Studie zeigte, dass Kinder mit einem speziellen Bewegungsprogramm sich deutlich verbessert hatten im Bereich Sprache, Lesefähigkeit, Aufmerksamkeit und Hyperaktivität als die Kinder einer Kontrollgruppe.

1970 D. Gustafsson (Kansas, USA)
Der Ergotherapeut stellte fest, dass Kinder mit neurologischen Auffälligkeiten auch vermehrt ungewöhnliche Reflexe aufwiesen.

1971 B. Rider (Kansas, USA)
Die Dozentin der University von Kansas fand heraus, dass Kinder mit Lernschwierigkeiten signifikant mehr persistierende Reflexe hatten als unauffällige Kinder in der Schule.

1976 M. Bender (Indiana, USA)
Dr. Miriam Bender von der Universität von Purdue fand bei 75% der Kinder mit einem auffälligen Lernverhalten einen persistierenden STNR. In der Kontrollgruppe mit Kindern ohne Lernprobleme war der Reflex nicht vorhanden. Nach der Entwicklung und Anwendung eines Übungsprogramms zur Hemmung des STNR verbesserten sich bei vielen Kindern die Leistungen.

1982 K. Bernhardsson und K. Davidson (Göteburg, Schweden)
In einer kleinen klinischen Studie hatte keines der Kinder mehr eine Lernbehinderung, nachdem sie ein spezielles Training zur Ausreifung aller frühkindlichen Reflexe durchlaufen hatten. Auch ein Teil der Kinder mit ursprünglich starken Kopfschmerzen wurden schmerzfrei und die Kinder mit Problemen beim Schwimmen lernten plötzlich zu schwimmen.

1994 R. B. Wilkinson (Newcastle upon Tyne, Großbritannien)
Die Doktorandin der dortigen Universität bestätigte die Studie von Barbara Rider aus dem Jahr 1971 mit dem Zusammenhang zwischen persistierenden frühkindlichen Reflexen und Lernstörungen.

1997 N. O’Dell und P. Cook (Indianapolis, USA)
Die beiden Professorinnen der Universität Indianapolis entwickelten auf Basis von Dr. Miriam Benders Übungen (s.o.) ein Trainingsprogramm, mit dem man die Symptome von ADS und ADHS ohne Medikamente verringern konnte.

1998 S. Goddard Blythe (Chester, Großbritannien)
Mit ihrem Institut für Neuro-Physiologische Psychologie (INPP) hat sie eine Methode zur Förderung der neuromotorischen Entwicklung erarbeitet. Anhand eines Screenings erhält man Hinweise, ob die Probleme des Kindes auf eine neuromotorische Entwicklungsverzögerung zurückzuführen ist.

Sally Goddard Blythe und Peter Blythe gelten übrigens als Begründer der Behandlung von persistierenden frühkindlichen Reflexen mit einem Bewegungsprogramm zur neuromotorischen Nachreifung.

2000 M. McPhillips, P.G. Hepper und G. Mulhern (Belfast, Großbritannien)
In einer randomisierten Doppelblindstudie wurde festgestellt, dass sich die Lese- und Schreibfähigkeiten sowie die Schreibgeschwindigkeit verbesserten, nachdem mit einem Übungsprogramm die Primärreflexbewegungen der Fötus- und Neugeborenzeit wiederholt wurden (neuronales Nachreifen).

2001 S. Goddard Blythe (Chester, Großbritannien)
In einer Studie wiesen alle 54 Kinder mit einer Legasthenie bzw. LRS einen persistierenden ATNR und TLR auf.

2001 W. Bein-Wierzbinski (Hamburg, Deutschland)
Mit 52 Grundschulkindern konnte sie belegen, dass sich Störungen im okulo-motorischen Bereich und der visuellen Wahrnehmung deutlich verringern oder sogar beheben lassen, wenn die Defizite der Bewegungsentwicklung des ersten Lebensjahres systematisch nachtrainiert werden. So verbesserten sich beispielsweise die Lesefertigkeiten.

2004 W. Bein-Wierzbinski (Hamburg, Deutschland)
In ihrer Dissertation an der Universität Hamburg wies sie u.a. den Zusammenhang zwischen der Aufrichtung der Halswirbelsäule und der Augensteuerung nach. So hat ein Kind, dessen Halswirbelsäule nicht ausreichend aufgerichtet ist, häufig Schwierigkeiten mit der zielgerichteten Fixierung beider Augen. Dies verursacht Probleme beim Lesen oder Abschreiben, denn die Augen können die Buchstaben nicht ganz erfassen und zusammensetzen.

2004 M. McPhillips und N. Sheehy (Belfast, Großbritannien)
In dieser Studie mit 409 Kindern im Alter von 9-10 Jahren wurde herausgefunden, dass Kinder mit Leseschwierigkeiten signifikant erhöht einen persistierenden ATNR aufweisen. Auch hier konnten Übungen, die der kindlichen motorischen Entwicklung nachempfunden waren, zu Verbesserungen beim Lesen, der Mathematik und der Motorik führen.

2004 M. Taylor, S. Houghton und E. Chapman (Perth, Australien)
Diese Studie der Universität Westaustralien bestätigte bei Kindern im Alter von 7-10 Jahren die Korrelation zwischen ADS/ADHS und der Persistenz des Mororeflexes, des TLR, des ATNR und des STNR.

2004/2005 S. Goddard Blythe (Nordirland, Großbritannien)
Diese Studie mit 672 Schülern von sechs unterschiedlichen Schulen in Nordirland ergab, dass 48% der Zweitklässler und 35% der Fünftklässler persistierende frühkindliche Reflexe hatten. Bei den Testergebnissen wurde deutlich, dass genau diese Kinder größere Schwierigkeiten hatten, Leistungen gemäß ihrer Intelligenz zu erbringen. Im Anschluss führten die Lehrer im gesamten nächsten Schuljahr jeden Tag ein spezielles Gruppentraining zur Integration der Reflexe durch und es gab signifikante Fortschritte beim Gleichgewicht, der Koordination, beim Lesen und bei den kognitiven Leistungen.

2011 M. Schmitz und K. Bruchhage (Bochum, Deutschland)
107 Kindern im Alter von 8-10 Jahren mit unterdurchschnittlichen Leistungen in Lese- und Rechtschreibtests wurden in dieser Studie der Ruhr-Universität Bochum untersucht. Es zeigte sich, dass diese Kinder Schwierigkeiten hatten, Gegenstände flüssig mit den Augen zu verfolgen und ein Zusammenhang zwischen der Blickbewegungsfähigkeit/-steuerung und einer Persistenz beim ATNR bestand.

2010 – 2012 Hessisches Kultusministerium (Wiesbaden, Deutschland)
27 Klassen aus Zweitklässlern nahmen an einer Vergleichsstudie über 18 Monate teil (Projekt Schnecke). 17 Klassen führten täglich in der Schule ein spezielles 15-minütiges Gleichgewichtsprogramm durch, während in der Kontrollgruppe mit 10 Klassen keine gezielte tägliche Förderung erfolgte. Die Kinder der Interventionsgruppe zeigten nach dem Training bessere Leistungen in der Lesefähigkeit und Rechtschreibung sowie im mathematischen Bereich, aber es zeigten sich auch positive Veränderungen bei der Feinmotorik, Auge-Hand-Koordination, Konzentration, Lernfreude, Klassenklima, Anstrengungsbereitschaft und sozialen Integration.

2012 H. Blomberg (Stockholm, Schweden)
Der Facharzt für Psychiatrie Harald Blomberg entwickelte in den 1980er-Jahren ein Bewegungstraining namens RMT (Rhythmic Movement Training) und behandelte über 25 Jahre Kinder mit Bewegungs-, Aufmerksamkeits- und Lernstörungen sowie Autismus.

2015 Sieber & Paasch Institut (München, Deutschland)
Bei dieser Untersuchung mit Vorschulkindern sowie Erst- und Zweitklässlern ergab sich eine Korrelation zwischen Lern- und Verhaltensauffälligkeiten mit motorischen Schwierigkeiten und anhaltenden frühkindlichen Reflexen. Nach dem Bewegungsprogramm zeigten sich erhebliche Verbesserungen bei allen Themen.

2017 E. Gieysztor, L. Sadowska und A. M. Choinska (Breslau, Polen)
Die Studie mit 135 Kindern im Vorschulalter und der 1. Klasse untersuchte die Persistenz von unterschiedlichen frühkindlichen Reflexen, wobei der ATNR und TLR am wenigstens integriert waren. Der Vorschlag der Autoren war, dass Screeningtests im Vorschulalter Teil der Prävention von zukünftigen Entwicklungsstörungen sein könnten.

2020 E. Gieysztor, A. Pech, M.Telega und E. Wolańska (Breslau, Polen)
Die Studie mit 44 Vorschulkindern zeigte, dass das Niveau der Reflexaktivität am stärksten mit sensorischen Störungen wie Dyspraxie, sensorisch-vestibulären und Haltungsstörungen verbunden war.

2021 J. Floris (Hennef, Deutschland)
Die Pilotstudie mit Kindern im Alter von 8-12 Jahren ergab, dass die neurophysiologische Entwicklungsförderung positive Auswirkungen auf emotionale Stabilität, Impulsivität, Konzentration, Lernen und allgemeine Entwicklung hatte.

2021 T. Galkowski und M. Matuszkiewicz (Warschau, Polen)
Bei dieser Vergleichsstudie mit 174 Kindern im Alter zwischen 4-10 Jahren zeigten Kinder mit einer Sprachentwicklungsstörung ein höheres Maß an persistierenden Reflexen wie Mororeflex, STNR, ATNR, TLR und Spinaler Galantreflex.

2023 S Goddard Blythe, E. Gieysztor, A. Kalemba und M. Lorenz (Breslau, Polen)
Diese Pilotstudie stellte bei Schulkindern fest, dass eine Korrelation zwischen Schwierigkeiten beim Lesen der analogen Uhr und der Persistenz von frühkindlichen Reflexen besteht (v.a. ATNR und STNR).

2023 L. Exposito, D. Gutierrez, A. Hernández-Martínez und Y. Sánchez-Matas (La Mancha, Spanien)
Bei einer Untersuchung von 233 Kindergartenkindern zeigten Kinder mit geringerer Reflexhemmung auch eine geringere motorische Kompetenz, wobei die meisten von ihnen auch nicht gekrabbelt sind.

Empfehlenswerte Literatur

Beigel, Dorothea (2003): Flügel und Wurzeln. Dortmund: verlag modernes lernen.
Blomberg, H. (2012): Bewegungen, die heilen. Freiburg: VAK Verlags GmbH.
Goddard Blythe, Sally (1998), Greifen und Be-Greifen: Wie Lern- und Verhaltensstörungen mit frühkindlichen Reflexen zusammenhängen. Freiburg: VAK Verlags GmbH.
Sieber, Christa und Queißer, Carsten (2019), Wieder im Gleichgewicht: Der bedeutende Einfluss frühkindlicher Reflexe auf das Gehirn unserer Kinder. Kösel Verlag.